Erster Arbeitstag

Ich gehe davon aus, dass Du auch schon einmal in Deinem Leben einen ersten Arbeitstag erlebt hast. Vielleicht auch schon mehrere. Kannst Du Dich noch an das Gefühl erinnern, wie es war, im Büro des Chefs empfangen zu werden, das nach altem Zigarrenrauch und herbem Parfüm roch? Dann wurdest Du von der Personalassistentin zu Deinem neuen Arbeitsplatz geführt, Deinen Kolleginnen und Kollegen vorgestellt und hast Dir überlegt: Wie zum Teufel überlebe ich diesen Tag?

In diesem Textschnipsel lasse ich Dich miterleben, wie es Sarah an ihrem ersten Tag in einem Lebensmittelgeschäft in der Shopping-Mall ergeht. Kommen da bei Dir Erinnerungen hoch? Schreib Deine Eindrücke und Erlebnisse unten in den Kommentar.

♦ ♦ ♦

Sarahs erster Arbeitstag im Supermarkt

Endlich hielt der Bus. Ich sprang hinaus und lief zum Eingang des Einkaufszentrums, dessen Tür offen stand.

Eine sehr füllige uniformierte Frau hielt davor Wache. Die Daumen im Gürtel eingehängt und die Schirmmütze bis knapp über die Augen gezogen, blickte sie mir abweisend entgegen.

»Wo wollen Sie hin, Ma’m?«, schnarrte sie.

»Ich arbeite hier, seit heute.«

»Der Personaleingang befindet sich auf der linken Seite des Gebäudes.«

Ich drehte den Kopf. Das waren nochmals hundertfünfzig Meter. Da würde ich definitiv zu spät kommen. Schon jetzt wäre es reiner Goodwill, mich noch als pünktlich zu bezeichnen. Und das am ersten Arbeitstag.

»Würden Sie mich ausnahmsweise hier reinlassen? Ich hab’s eilig.«

»Tut mir leid, Ma’m, keine Ausnahmen.« Sie straffte die Schultern und trat einen halben Schritt auf mich zu, die Augen fest auf mein Gesicht geheftet. An ihrer Seite baumelten ein Schlagstock und Handschellen.

Beschwichtigend hob ich eine Hand, trat einen Schritt zurück und trabte zum angegebenen Personaleingang. Ich hatte weder Zeit noch Lust, mich mit diesem weiblichen Fleischberg zu streiten. Mist! Dass ich ausgerechnet heute Morgen den ersten Wecker nicht gehört hatte. So was konnte auch nur mir passieren.

Außer Atem kam ich im Lebensmittelgeschäft an. Eine Handvoll Frauen und Männer waren damit beschäftigt, Regale aufzufüllen, Transportrollis mit Waren durch die Gänge zu schieben oder die Warenauslagen herzurichten. Einige Blicke streiften mich zwar flüchtig, aber niemand schien für mich zuständig zu sein.

»Hallo, Leute, ich fang heute hier an. Bei wem muss ich mich melden?«

Eine junge, schlanke Frau mit tiefblauen Augen, pink geschminkten Lippen und zusammengebundenen blonden Haaren hob den Kopf von der vordersten Kasse und blickte mich spöttisch an. Wie alle andern trug sie eine grüne Uniform. Über ihrer linken Brust war ein Namensschild angebracht mit der Aufschrift: Karen Nightingale, Leitende Verkäuferin.

»Und du bist …?« Vor lauter Blasiertheit kriegte sie ihre Wimpern kaum auseinander.

Instinktiv wusste ich, dass dieses Mädchen nicht meine Freundin werden würde.

»Sarah Flanagan.«

»Du bist zu spät, Sarah. Das weißt du doch, oder? Unser Chef kann es nicht ausstehen, wenn seine Verkäuferinnen zu spät kommen.«

Sie nahm ein pinkfarbenes Handy aus ihrer Schürzentasche und wählte eine Nummer.

»Deepak, Sarah ist verspätet eingetroffen. Soll ich sie zu dir schicken? Ist gut.« Sie legte auf und ließ das Telefon in die Tasche zurückgleiten.

»Deepak erwartet dich in seinem Büro. Mach dich auf was gefasst.« Sie streckte den Arm aus und zeigte quer durch den Laden. »Es ist dort drüben, hinter …«

»Ja, ich weiß. Ich war gestern schon da.«

»Unterbrich mich nicht, wenn ich dir etwas erkläre.« Sie fixierte mich missbilligend mit ihren Augen.

Dann wedelte sie mit der Hand. »Jetzt kannst du gehen.«

In mir kochte die Wut hoch. »Ich bin zwar neu hier, aber weder dumm noch deine Magd.«

»Liebe Sarah, so kommen wir miteinander nicht weit. Du brauchst mich mehr als ich dich.«

»Ach, leck mich doch!«

Ich nahm meinen Rucksack auf und eilte zu Deepaks Büro auf der anderen Seite des Ladens.

An seiner Tür war ein Schild aus glänzendem Messing befestigt, auf dem stand: Deepak Gadhavi, Store Manager.

Gadhavi? Kannte ich da nicht mal einen Typen, der so hieß? Mir fiel nicht ein, woher ich den Namen kannte, aber ich hatte kein gutes Gefühl dabei.

Ich klopfte an.

»Herein!«

Ich betrat ein enges, schummrig beleuchtetes Büro, das nach Schweiß, indischen Gewürzen und abgebrannten Räucherstäbchen stank. Durch eine einseitig durchsehbare Scheibe konnte man unbemerkt den Laden beobachten. Schräg davor stand der Schreibtisch des Managers, an der gegenüberliegenden Wand ein dunkles Sideboard, auf dem eine indische Gottheit mit vier abgewinkelten Armen saß, umgeben von einem Gewusel aus künstlichen Blumen und sonstigen Figürchen.

Deepak war bei meinem Eintreten aufgestanden. »Hallo, Sarah! Du bist zu spät.« Er schaute auf die elektronische Uhr über dem Beobachtungsfenster. »Sieben Minuten, um genau zu sein. Und das an deinem ersten Arbeitstag.« Er schüttelte den Kopf, während mich seine dunkel umränderten schwarzen Augen fixierten.

»Ich weiß, tut mir leid. Kommt nicht wieder vor.«

»Das hoffe ich für dich. Bei mir musst du pünktlich sein, rasch und zuverlässig arbeiten, den Anweisungen der Leitenden Verkäuferin Folge leisten und mir die Füße küssen.«

Ich blickte ihn ungläubig mit großen Augen an.

Nach einigen Augenblicken brach er in heiseres Lachen aus.

»Vergiss den letzten Punkt! War nur ein Witz.«

Ich nickte.

»Wir erledigen zuerst die Eintrittsformalitäten.« Er wies auf die Stirnseite seines Tisches, an dem ein schmaler Stuhl stand. »Setz dich!«

Selber ließ er sich auf seinen ledernen Drehsessel mit breiten Armlehnen fallen, wippte ein paarmal vor und zurück und entnahm dann einer Schublade ein Formular, das er umständlich vor sich hinlegte.

»Vorname … Sarah. Mit einem h am Schluss?«

»Ja.«

»Nachname?«

»Flanagan.«

»Mit g-h?«

»Ohne h. F-l-a-n-a-g-a-n.«

Er kritzelte meinen Namen in ungelenken Buchstaben aufs Papier.

»Sozialversicherungsnummer?«

Ich öffnete mein Portemonnaie, legte ihm die Karte hin, und er schrieb die Nummer ab.

»Geburtsdatum?«

»22. Februar 1995.«

»Eltern?«

»Lucy Flanagan und Stuart Robertson.«

Er blickte auf. »Sind sie nicht verheiratet?«

»Sie leben nicht mehr.«

»Oh, tut mir leid. Was ist geschehen?«

»Als ich fünf war, sind sie bei einem Autounfall gestorben.«

Er sah mich an und wackelte mit dem Kopf, als wäre der nicht richtig angewachsen. »Schrecklich, ganz schrecklich.«

Machte er sich über mich lustig, oder meinte er es ernst? Ich war verwirrt.

»Wer ist jetzt dein gesetzlicher Vertreter?«

»Ich bin seit drei Jahren und zehn Tagen volljährig.« Ich legte ihm meinen Personalausweis hin und tippte mit dem Zeigefinger auf das Geburtsdatum.

»Tatsächlich. Du siehst jünger aus.«

»Ich weiß.«

Er drehte das Blatt um.

»E-Mail-Adresse?«

»Ist das nötig? Ich will keinen Spam erhalten.«

»So sind die Regeln. Keine E-Mail-Adresse, kein Job.«

Ich seufzte. ».« Er musste ja nicht wissen, dass dies eine Adresse war, die ich nie im Leben abrief.

Er stand auf. »Was hast du für eine Konfektionsgröße?«

»Wozu … also, das ist doch …« An was für einen Triebtäter war ich hier geraten? Oder war er andersherum gewickelt? Oder ein Damenkleiderfetischist? Mich schauderte.

»Du willst doch eine gut sitzende Uniform, oder?« Er spielte mit dem Kugelschreiber. »Also?«

»Ach so.« War das peinlich. Ich würde es noch schaffen, und am ersten Tag hier rausfliegen, wenn ich mich jetzt nicht zusammenriss.

»Keine Ahnung.« Es hatte mich noch nie interessiert. Ich probierte die Klamotten im Laden an. Wenn sie passten, kaufte ich sie. Meine Shirts waren meistens ein paar Nummern zu groß.

»Dann steh mal auf.« Er nahm mit den Augen Maß. »Hm, Körpergröße etwa eins fünfundsechzig, normale Armlänge, üppige Oberweite, schlanke Taille, weibliche Hüften. Probieren wir es mit einer 38. Komm mit in den Umkleideraum. Dort bekommst du deine Arbeitsuniform und einen persönlichen Spind.«

Ich kam mir vor wie Frischfleisch auf dem Sklavenmarkt.

Während wir hinübergingen, sagte er: »Die Uniform hat stets tadellos gereinigt zu sein. Wenn du mehr als eine benötigst, musst du sie selber bezahlen. Dein Portemonnaie und dein Handy bleiben während der Arbeitszeit im Spind. Das Handy muss ausgeschaltet sein. Wenn es im Spind klingelt, verbiete ich, es überhaupt mit zur Arbeit zu bringen.«

In der Umkleide schloss er einen Schrank auf, suchte eine Uniform heraus und gab sie mir. »Voilà, Größe 38. Schau, ob sie passt. Aber ich habe mich noch nie geirrt.«

Wortlos nahm ich die Schürze entgegen, legte Rucksack und Jacke ab und zog sie an. Sie passte wie maßgeschneidert.

Deepak grinste zufrieden. »Ich hab doch gesagt, dass ich noch nie danebengegriffen habe. Das Namensschild bekommst du in einer halben Stunde nach deiner Einführung an der Kasse.«

»Okay, Danke!« Ich konnte nicht leugnen, dass ich mich in der Uniform gleich etwas wichtiger und offizieller fühlte als ohne. Was für einen Unterschied ein Stück Stoff doch ausmachte.

Karen empfing mich mit einer herablassenden Geste. »So, hast du deine Uniform? Jetzt musst du noch anständige Jeans und bessere Schuhe tragen. Du hast doch welche, Sarah?«

Sie klatschte in die Hände, und die übrigen Angestellten kamen zusammen. »Das ist Sarah, sie übernimmt Kasse 5 während der Stoßzeiten. Ansonsten füllt sie Regale auf oder hilft in der Gemüseabteilung.«

Sie drehte sich zu mir um. »Sarah, das sind deine Kolleginnen und Kollegen: John, Cindy, Amanda, Lenny und Florence. Flo ist unsere französische Praktikantin. Noch Fragen?«

»Danke, Karen!« Ich schaute in die Runde. »Hallo, zusammen! Freut mich.«

Die Jungs, John und Lenny, nickten mir freundlich zu. Aber Amanda und Cindy kicherten und tuschelten miteinander und warfen Karen unterwürfige Blicke zu. Nur Florence blickte mich interessiert an und sagte Hallo.

»Okay, wer führt mich an der Kasse ein?«

Karen scheuchte die anderen weg. »An die Arbeit mit euch! Ich werde dir die Kasse zeigen. Komm, wir setzen uns gleich an Kasse 5.«

Die Einführung mit Karen war eine Qual. Das hochnäsige Mädchen konnte keine zwei Minuten etwas erklären, ohne erniedrigende Bemerkungen fallen zu lassen. »Dann nimmst du das Geld entgegen, hältst die größeren Scheine unter den Fälschungsdetektor – du kannst doch echte von gefälschten Scheinen unterscheiden? – und tippst den exakten Betrag ein.«

»Hör mal, ich bin nicht von gestern.«

»Ach, so wie du rumläufst, war ich mir nicht sicher, ob du das auf die Reihe kriegst. Dann lass uns weitermachen.«

Was war es nur, das mir in Karens Gegenwart ständig die Galle hochtrieb? Immer wieder ermahnte ich mich, freundlich zu bleiben und mir Mühe zu geben, damit ich es nicht versaute.

Dann kamen die ersten Kunden. Ich half John in der Gemüseabteilung, als Karen um halb elf eine Durchsage machte: »Kasse 5, Miss Flanagan, bitte!«

John gab mir ein Zeichen. »Das ist dein Einsatz. Mach’s gut.«

Ich legte den Kohlkopf in die Auslage, wischte mir die Hände an den Jeans ab und beeilte mich, meine Kasse zu öffnen.

Bei der dritten Kundin blieb die Kasse stecken. Ich drückte auf alle möglichen Knöpfe, aber sie blieb blockiert.

Die Kundin blickte nervös auf die Uhr. »Geht das nicht ein bisschen schneller? Ich habe gleich einen Termin beim Arzt.«

»Tut mir leid, ich bin noch neu hier, und die Kasse hat sich aufgehängt. Ich hole gleich Hilfe.«

Die Frau verdrehte schnaubend die Augen. Ich richtete mich auf und gab Karen ein Zeichen. Aber sie schaute nicht herüber.

»Karen.«

Keine Reaktion. Sollte ich lauter rufen?

»Karen!«

Sie kassierte ruhig weiter. Es konnte doch nicht sein, dass sie mich nicht gehört hatte.

»KAREN!«

Jetzt schaute sie herüber und warf mir einen genervten Blick zu. »Was ist denn?«

»Die Kasse ist blockiert. Kannst du mir helfen?«

»Gleich.«

Sie beendete ihre Kundin und kam zu mir.

»Lass mal sehen. Hast du die Entsperrtaste gedrückt?«

»Ja, nichts reagiert mehr.«

Sie hantierte unter der Schublade. Plötzlich ertönte ein leises Signal und die Kasse funktionierte wieder.

An die Kundin gewandt sagte sie: »Tut mir leid für die Verzögerung, Ma’am. Sarah ist neu hier und hat ihr Können offensichtlich überschätzt. Bitte entschuldigen sie!«

Meine Ohren wurden heiß, und mein Temperament fühlte sich an wie ein Vulkan vor dem Ausbruch. Doch ich unterdrückte den Impuls, dem frechen Luder meine Meinung zu sagen, und kassierte den Betrag ein.

Als meine Mittagspause kam, schnappte ich mir den Rucksack und rannte nach draußen, an die frische Luft. Hinter dem Haus fand ich eine windgeschützte Wand, an der ich mich niederließ und meinen Lunch auspackte.

»Darf isch misch zu dir setzen?«

Ich blickte hoch. Florence lächelte mich schüchtern an.

»Ja, natürlich. Hast du was zu essen dabei?«

Sie packte etwas in eine Frischhaltefolie Eingerolltes aus. »Ja, isch ’abe Omelettes. Möschtest du probieren?«

Ihre französische Aussprache kitzelte meinen Bauch. Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte ich. »Gerne. Was ist denn drin?«

»Oh, du wirst es mögen. Eier, Pilze, Schinken und Kräuter.«

»Dann musst du auch von meinem Sandwich probieren. Mit einheimischem Knoblauch.«

»Was ist daran so speziell?«

»Er wird eineinhalb Stunden südlich von hier in Gilroy biologisch angebaut. Ich hab früher dort gewohnt.«

»Dann muss isch unbedingt davon kosten.«

Wir tauschten unsere Speisen miteinander aus. Ich steckte mir ihr Omelett in den Mund. »Mmh, köstlich«, nuschelte ich mit vollem Mund.

Sie strahlte erfreut. »Nischt wahr? ’ab isch nischt zu viel versprochen?«

Ich nickte. »Und der Knoblauch? Schmeckt er dir auch?«

»Ja, sehr geschmackvoll. Isch liebe Knoblauch.«

Danach widmeten wir uns unserem Lunch.

»Es tut mir leid, wie disch die andern be’andeln. Das ist nischt fair. Isch bin seit zwei Monaten da, aber du bist schon die dritte Verkäuferin, die frisch eingestellt wird. Die andern zwei ’aben es nischt lange ausge’alten.«

Ich zuckte die Schultern. »Ich kann mich wehren. Aber ich darf diesen Job nicht vermasseln, weil ich sonst bei meiner Grandma rausfliege.«

Florence schaute mich mit großen Augen an. »Das ist ja schrecklisch.«

»Na ja, ich bin nicht ganz unschuldig daran. Immer wieder gerate ich mit Leuten wie Karen aneinander, und dann kracht’s eben. Nur bin ich meistens diejenige, die den Kürzeren zieht.«

»Du ’ast disch ’eute zusammengenommen, nischt wahr?«

Ich nickte. »Mir bleibt nichts anderes übrig. In diesem Job will ich Fuß fassen und mich bewähren.«

»Dann wünsch isch dir viel Glück.«

»Ja, das kann ich brauchen.«


Copyright © by Martin Fischer, 2016

Der Roman erscheint am 13. Januar 2017 bei Ullstein Forever.

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