Leseprobe Abfahrt in zwei Minuten

Kapitel 1

Abiturklasse 2012, Arndt-Gymnasium, Berlin-Dahlem

»Regina, kopieren Sie dieses Blatt zweiundzwanzig Mal. Und beeilen Sie sich!«
Sie nahm die Französischaufgabe und Herrn Fröhlichs Schlüsselbund entgegen und machte sich auf den Weg zum Kopierraum im Erdgeschoss. Während sie die endlosen Flure entlangschlenderte, las sie die Aufgaben und runzelte die Stirn. Typisch »Bruder Lustig«. Sie hatten diesen Stoff noch gar nicht durchgenommen, und jetzt sollten sie schon diese schwierigen Aufgaben lösen? Er machte das ständig mit ihnen, um sie angeblich zur Selbstständigkeit zu erziehen.
Regina steckte den Schlüssel in die Tür des Kopierraums und versuchte erfolglos, ihn zu drehen. Sie war nicht abgeschlossen. Ob schon jemand drin war? Sachte drückte sie die Türfalle hinunter und öffnete die Tür einen winzigen Spalt. Das Licht brannte und sie hörte Geräusche. Vorsichtig streckte sie den Kopf in den Raum.
Regina erstarrte. Regina in Abfahrt in zwei MinutenAuf dem Tisch neben dem Kopierer saß ein blondes Mädchen, das mit einem Jungen knutschte. Allein der Anblick eines knutschenden Paares im Kopierraum hätte Regina nicht derart erschüttert, wenn sie nicht den Jungen bestens gekannt hätte …
»Axel!« Ihre Stimme peitschte durch den Raum.
Reginas Freund wandte sich erschrocken um und trat einen Schritt zurück. Das Mädchen hopste vom Tisch herunter, lachte dümmlich und brachte ihre Haare in Ordnung, während Axel verlegen zu Regina schielte, sein Hemd zuknöpfte und in die Hose steckte.
Regina und Axel waren das Paar des Abschlussjahrgangs. Als verwöhnter Sohn eines reichen Industriemagnaten mangelte es ihm an nichts. Er konnte sich jeden Wunsch erfüllen und fuhr bereits einen eigenen BMW X3. Sie hatte ihn im Jahr zuvor kennengelernt, als sie beide an der Party von Axels bestem Freund eingeladen waren. Sie war damals noch Mitglied einer lokalen Punkband und piercte sich nach dem Vorbild einiger populärer Sängerinnen an allen möglichen und unmöglichen Körperteilen, trank Bier und Wodka und provozierte, wo sie nur konnte. Nichts war verrückt genug, das sie nicht getan hätte, um ihrem Image eines knallharten Mädchens gerecht zu werden.
Nach einigen Bierchen, Wodkas und anderen harten Getränken lagen sie auf einer Couch und vergnügten sich mit dem alkoholmotivierten Austausch von Zärtlichkeiten. Als sie am Morgen erwachten, wussten sie nicht mehr, was sie alles getrieben hatten, und mit wem, aber sie fanden sich sympathisch und wurden ein Paar.
Als er sie seinen Eltern vorstellte, rümpften diese bei ihrem Anblick die Nase, denn für ihren Sohn und zukünftigen Geschäftsinhaber hatten sie sich eine bessere Partie aus dem Berliner Jet-Set erhofft. Davon ließen sich die zwei nicht beeindrucken und klebten ständig zusammen, außer wenn sie in ihren jeweiligen Klassenzimmern saßen. Regina verwandelte sich an der Seite von Axel und entfernte ihre Piercings, zuerst die an den Brustwarzen, bald auch die übrigen, ließ die gewellten Haare in ihrer natürlichen, kastanienbraunen Farbe wachsen, bis sie ihr auf die Schultern fielen, und fand Gefallen an modischen Klamotten, die Axel mit ihr in den angesagtesten Shops am Ku’damm kaufte. Es machte ihm Spaß, aus der »Punk-Räck«, wie sie auch genannt wurde, ein vorzeigbares Partygirl zu machen. Ach, sie war so blind vor Liebe, dass sie nicht merkte, dass Axel …
»Äh, Regi, das … das ist ein Missverständnis. Es ist nicht das, wonach es aussieht.«
Regina lachte laut heraus. »Spar dir deine Ausreden. Für wie doof hältst du mich denn?«
Ihre haselnussbraunen Augen sprühten Funken vor Wut und Enttäuschung und hielten seinen Blick gefangen. Ihr Körper war angespannt, wie eine Raubkatze, die zum Sprung ansetzt. Wie ein geprügelter Hund mit eingezogenem Schwanz schlich er um sie herum, um zur Tür zu gelangen, behielt sie jedoch stets im Auge. Die Blondine folgte ihm mit hoch erhobenem Kopf und warf Regina einen triumphierenden Blick aus ihren hellblauen Augen zu. Regina beachtete das Mädchen gar nicht. Für sie zählte nur Axel und was er getan hatte.
Sie zog sich den diamantbesetzten Freundschaftsring vom Finger, den er ihr erst vor drei Wochen geschenkt hatte, und warf ihn nach ihm. Er duckte sich und das teure Schmuckstück schlitterte hinter einen Materialschrank.
»Tritt mir nie wieder unter die Augen, du Schleimer. Werd glücklich mit der Schlampe.«
Sie hörte das Mädchen draußen lachen, als sie sich davon trollten.
Während sie, wie betäubt, die Kopien anfertigte, fingen ihre Hände und Knie an zu zittern. Irgendwie fand sie ins Klassenzimmer zurück und ließ sich schwer auf ihren Stuhl plumpsen.
Ihre Banknachbarin flüsterte ihr entsetzt zu: »Was ist passiert? Du bist ja kreidebleich.«
Regina schüttelte den Kopf und starrte auf ihre zitternden Hände.
Tagelang taumelte sie anteilslos durchs Leben, wie durch einen Watteberg. Sie schwor sich, nie wieder einem Mann ihre Gefühle zu offenbaren und ihn in ihr Herz zu lassen. Voller Abscheu dachte sie an die Nächte, die sie mit Axel im Sommerhaus seiner Eltern zugebracht hatte, und versuchte erfolglos zu vergessen, was sie dort getrieben hatten. Aus dem unternehmungslustigen, lebensfrohen Mädchen wurde zunehmend ein stilles, zurückgezogenes Wesen, das sich gegen außen eine freundliche Schale zulegte, jedoch niemanden an ihr Herz heranließ.
»Regina, das Leben geht weiter. Nicht alle Männer sind solch treulose Windhunde. Schau nach vorne, konzentriere dich auf die Abiturprüfungen und suche dir einen Studienplatz. Alles wird wieder gut.«
Frank, der Freund ihrer Mutter, redete ihr gutmütig zu und versuchte, sie aus ihrer Depression herauszuholen. Mit ihrer Mutter konnte sie nicht darüber reden, denn sie war enttäuscht, dass Regina Axel aus einem Impuls heraus, wie sie es nannte, fallen gelassen hatte. Immer wieder ermahnte sie sie, sich mit ihm zu versöhnen. Nach Reginas wilden Jahren war sie so froh gewesen, dass ihre Tochter den Spross einer bedeutenden Familie geangelt und sich so positiv verändert hatte.
Regina wollte weit weg von Berlin und ihren Problemen. Sie suchte im Internet nach Studienplätzen, um Deutsch und Geschichte zu studieren, obwohl sie nicht wusste, was sie damit anfangen sollte. Als sie an der Universität in Bern angenommen wurde, war sie erleichtert. 1’000 Kilometer Abstand würden wohl ausreichen. Frank unterstützte sie in ihrem Vorhaben und half ihr, eine Wohnung zu finden. Gegenüber der Vermieterin verbürgte er sich für die Miete und leistete sogar die Kaution.
Darüber hinaus würde Regina selbstständig in Bern überleben müssen. Ihr Vater hatte ihr eine Erbschaft hinterlassen, mit der sie während der Studienzeit die Miete, Studiengebühren und einen Teil des Lebensunterhalts bestreiten konnte. Zusätzlich würde sie sich einen Job suchen müssen, um über die Runden zu kommen.
Nach ihrem Umzug fing ihre Mutter damit an, sie mehrmals pro Woche anzurufen, um alles zu erfahren, was Regina machte. Obwohl sie in ihrer Teenie- und Punkerzeit versucht hatte, sich von Mutter abzugrenzen, war sie doch abhängig von deren bestimmendem und besitzergreifendem Wesen. Sie glaubte, sich nicht gegen sie zur Wehr setzen zu können und akzeptierte zähneknirschend, dass sie ständig kontrolliert wurde.


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 Mitte September 2012

Valerie Gerber - Abfahrt in zwei MinutenAm ersten Studientag in Bern fiel Regina sofort das Mädchen mit dem schwer zu bändigenden Busch roter Haare auf, das bereits im Hörsaal Platz genommen hatte. Ihre Haut war mit Sommersprossen übersät. Sie hatte einen offenen, interessierten Blick, eine leichte Stupsnase und wirkte sehr anziehend.
Sie setzte sich neben sie und stellte sich schüchtern vor: »Hallo, ich bin Regina Bockmühl und komme aus Berlin.«
Die Rothaarige schaute sie mit ihren grünblauen Augen aufmerksam an und erwiderte mit einem herzlichen Lächeln: »Ich bin Valerie Gerber aus Mont-Tramelan, im Jura.« Dabei bediente sie sich, wie die meisten Schweizer, wenn sie auf Hochdeutsch angesprochen werden, eines holprig klingenden Hochdeutschs. Regina blickte sie fasziniert an. Der französische Akzent ließ sie beinahe exotisch erscheinen.
Sie mochten sich vom ersten Moment an. Valerie, die ein Jahr älter war, half der erst neunzehnjährigen Regina, die Anfangsschwierigkeiten als Ausländerin in der Schweiz zu überwinden. Es mag banal klingen, aber die Umgangsformen und der sprachliche Ausdruck waren zu Beginn ein Problem. Mit ihrer lockeren Berliner Schnauze wurde sie von den schwerfälligen Schweizern oft nicht oder missverstanden, selbst wenn sie sich Mühe gab, reines Hochdeutsch zu sprechen. Als sie das erste Mal zusammen ausgingen, fiel Valerie fast vom Hocker, als Regina ihre Bestellung aufgab.
»Ich krieg ein Schnitzel mit Pommes, Salat und eine Cola, ohne Eis. Und bringen Sie eine Tube Ketchup.«
Als der Kellner verschwunden war, prustete Valerie los. »Mensch, Regi, du bist aber forsch.«
Diese schaute sie erstaunt an. »Hab ich was Falsches gesagt?«
»Du hast wie eine deutsche Touristin geklungen. »Ich krieg …«, tönt für unsere Ohren nach Krieg, fordernd und hart. Die Schweizer erwarten, dass das Gegenüber höflich bittet, auch wenn es der Kunde ist.
»Hm, das wusste ich nicht. Zu Hause bestelle ich immer so, wenn ich was will.«
»Die Schweizer sind nicht so direkt, wie ihr Deutsche. Schweizer empfinden euch rasch als grob oder verletzend und drücken sich weniger unverblümt aus. Allerdings gibt es auch unhöfliche Schweizer«, schränkte Valerie mit einem Lachen ihre Aussage ein.

Drei Wochen nach dem Beginn des Studienjahres fand der alljährliche Donatorenanlass der Universität statt. Regina und Valerie saßen mit vielen Anderen in einer Festhalle an einem langen Tisch, als sich ein Student zu ihnen setzte.
»Hallo, ich bin Thomas«, stellte er sich vor und gab ihnen höflich die Hand.
Regina errötete und warf Valerie einen verschmitzten Blick zu. Diese antwortete für beide: »Hey, das ist Regina und ich bin Valerie. Wir studieren Deutsch und Geschichte, erstes Semester, und du?«
»Geologie, auch erst seit drei Wochen. Ich liebe die Berge und sammle Mineralien, aber ich will euch nicht langweilen … Ich kenne da einen Geologenwitz: Ein amerikanischer Ölmilliardär kommt nach zehn Jahren wieder durch Paris und sieht den Eiffelturm. ›Jetzt bohren die Boys immer noch‹, sagt er, ›und Öl haben sie trotzdem noch keines gefunden!‹« Dabei imitierte er den tiefen, schnarrenden Ton eines reichen Amerikaners mit Stetson, wie man ihn aus den Filmen kannte. Ringsherum lachten alle, die dem Witz zugehört hatten.
Regina betrachtete den Witzeerzähler fasziniert. Thomas war ungefähr einsachtzig groß, von athletischer Statur, mit dunkelbraunen, gut geschnittenen Haaren. Obwohl er auf sein Äußeres scheinbar wenig Wert legte, erkannte sie an kleinen Details eine gewisse Eitelkeit. An seinem karierten Hemd standen die obersten zwei Knöpfe offen, sodass die dunklen, drahtigen Brusthaare hervorlugten. Er hatte die Ärmel nach hinten gekrempelt und auch seine kräftigen Unterarme und großen Hände wiesen eine sehr männliche Behaarung auf. Immer wieder kraulte er seine beeindruckenden Koteletten. Aber diese äußeren Merkmale wurden von seinen marineblau strahlenden Augen in den Schatten gestellt. Die tiefblaue Iris wurde von feinen, hellen Strahlen durchzogen, und wenn man ihn anschaute, konnte man nicht anders, als seine Augen anzustarren. Wenn er es bemerkte, zwinkerte er belustigt und lächelte freundlich. Dabei entblößte er eine Zeile regelmäßiger, weißer Zähne. Verstohlen musterte sie ihn immer wieder, während sie dem dargebotenen Programm folgten. Vermutlich war er etwas älter, als sie. Er wirkte sehr reif und … nachdenklich. Zwischendurch nahmen seine Augen einen beinahe melancholischen Ausdruck an, wenn er einen in der Ferne liegenden Punkt fixierte.
Nach einem Bandauftritt wurden die Festreden gehalten. Zuerst sprach der Dekan, dann die Professorin für Wirtschaftsethik. Als die dritte Rede angekündigt wurde, streckte Regina ihren Rücken durch und gähnte verhalten.
»Mein Bedarf an Festreden ist gedeckt.«
»Habt ihr Lust auf ein Eis an der Aare? Ich kenne da eine gemütliche Eisdiele. Mein Auto steht gleich um die Ecke.«
Sie verdrückten sich vom Anlass und so begann ihre Freundschaft als Trio. Sie verbrachten oft ihre Freizeit miteinander, gingen ins Kino, aßen zusammen oder machten Ausflüge und genossen es, in einem kameradschaftlichen Sinn Freunde zu sein. Durch den Umgang, den sie miteinander pflegten, bürgerte sich die unausgesprochene Abmachung ein, nicht über romantische Gefühle zu sprechen, die ihr Trio gefährdet hätten.

 

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