Fingerübung: Die schwarze Insel

Zur Zeit habe ich kein Schreibprojekt. Dafür lese ich mehr, bilde mich als Autor weiter und mache ab und zu eine Fingerübung, um das Kreativgehirn geschmeidig zu halten.

Hier der Anfang zu einem Thriller, Die schwarze Insel. Zieht dich dieser kurze Text schon rein?

Pippa

Blake Cooper strich mit seinen Fingerspitzen über die Rücken der Bücher in der Auslage des Trödel-Händlers auf dem Wochenmarkt von Ivygrove. Der ölige, dichte Nebel, der sich heute vom Mississippi her zwischen den feuchten Häuserwänden festgesetzt hatte, ließ ihn erschauern. Doch nicht nur wegen des Nebels. Seit er am Mittag seinen Wagen in dieses Städtchen gelenkt hatte, hatte sich ein mysteriöses Gefühl von Dringlichkeit und Gefahr in ihm breitgemacht. Die Zeit drängte, er musste dieses Buch unbedingt finden. Fröstelnd schlug er seinen Mantelkragen etwas höher und fuhr fort, die Buchtitel abzusuchen.

»Schöne Bücher, nicht wahr?«, sagte eine weiche Stimme neben ihm. Ein dezenter Rosenduft streichelte seine Nase. Er drehte den Kopf und blickte in das nicht mehr ganz junge, aber nicht minder attraktive Gesicht einer rothaarigen Frau, die ihn mit Krähenfüßen in den Augenwinkeln anlächelte. Spontan hätte er sie zwischen Mitte Vierzig und Mitte Fünfzig geschätzt. Sie mochte etwa zehn Jahre älter als er sein.
»Ja«, brummte er.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«, fragte sie. Dabei nahm sie ein Buch heraus – es war ein Liebesroman von Nicolas Sparks – und blätterte ein wenig darin herum.
Blake zuckte die Schultern. »Nicht wirklich.«
Sie legte das Buch zurück und ließ ihre Finger über die Buchrücken gleiten, wie er es eben auch getan hatte. »Dann lassen Sie sich inspirieren?«
Er schüttelte den Kopf. Was wollte sie bloß von ihm? »Nein, ich suche ein Buch, das ich früher einmal gelesen habe. Leider ging es verloren, und ich kann mich auch nicht mehr an den Titel erinnern.« Hoffentlich ließ sie ihn jetzt endlich in Ruhe.
»Weshalb suchen Sie es gerade jetzt?« Sie streckte die Hände in ihre Manteltaschen und sah ihn interessiert an.
»Hören Sie, ich möchte nicht unhöflich sein, aber das ist etwas sehr Persönliches.«
»Das sehe ich Ihnen an. Vielleicht könnte ich Ihnen dabei helfen, es zu finden.«
»Und wie? Wollen Sie mich unter Hypnose setzen, um meine Erinnerungen freizulegen? Oder können Sie Gedanken lesen?« Er schüttelte den Kopf und wandte sich dem nächsten Bücherstand zu. Ohne weiter über die Frau nachzudenken, glitten seine Finger über die Buchrücken, wie die Hände eines Pianospielers, die eine Tonleiter üben.
Eine kühle, sommersprossige Hand legte sich auf seine. »Wollen Sie mir wenigstens erzählen, wovon das Buch gehandelt hat?«
Unwirsch zog er seine Hand zurück. »Wieso sollte ich? Ich kenne Sie überhaupt nicht.«
Ihr helles Lachen glitzerte wie ein Sonnenstrahl durch den Nebel. »Dem kann ich gerne abhelfen. Ich bin Philippa Thomas, aber nennen Sie mich einfach Pippa, wie es alle meine Freunde tun.«
Ihm dämmerte etwas. Jetzt sah er sie nochmals genauer an. »Du meine Güte! Sind Sie etwa die Pippa von Pippa und die Nachtschwärmer
Mit einem breiten Lächeln streckte sie ihm die Hand hin. »Genau!«
Er schüttelte die schlanke, kräftige Hand und hoffte, dass er nicht wie ein verliebter Schuljunge rot wurde. »Als Teenager konnte ich alle Ihre Songs auswendig.« Nun fühlte er doch, wie seine Ohren glühten. »Damals habe ich Pop-Songs geliebt.« Er räusperte sich. »Ich bin …«
»… Blake Cooper, der berühmte Schriftsteller.«
Ein Schauer lief ihm über den Rücken. »Sie kennen mich?«
»Sie und Ihre Bücher. Ich besitze alle und habe einige schon mehrfach gelesen.«
Nun schoss ihm wieder die Hitze ins Gesicht. »Oh, das freut mich. Und was bringt Sie an diesem nebligen Tag nach Ivygrove?«
»Ich habe nach Ihnen gesucht.«
Nun verstand er gar nichts mehr. »Sie haben mich gesucht? Wozu? Warum haben Sie mir nicht eine E-Mail geschrieben, oder über meinen Agenten Kontakt mit mir aufgenommen?«
Sie blickte sich verstohlen um, und einen winzigen Moment wirkte sie ängstlich und angespannt. Dann kehrte ihr Lächeln zurück. »Das würde ich gerne bei einem Kaffee mit ihnen besprechen. Sind Sie nicht auch ganz durchfroren?«
Der Wink mit dem Zaunpfahl war nicht zu übersehen. Sie wollte nicht inmitten der vielen Menschen darüber reden. Dennoch versuchte er, nicht den Anschein zu erwecken, ihr sofort hinterherlaufen zu wollen. »Können Sie mir nicht wenigstens ein Stichwort geben, worauf ich mich einlasse?«
Sie hakte sich bei ihm unter und führte ihn weg von den Verkaufsständen. »Ein Geheimnis sollte nicht öffentlich breitgetreten werden, sonst wäre es ja kein Geheimnis mehr.«
Fingerübung: Die schwarze Insel
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